ANGEWANDTE (UN)SICHERHEIT
Vernetzte Gesellschaften zwischen Kommunikation, Überwachung und künstlerischer Freiheit

Rena Tangens + padeluun "Privacy-Card"
Alvar Freude und Dragan Espenschied "insert_coin"
Geissler & Sann "shooter"

Ausstellung, Workshop, Kongress
vom 18. Mai bis zum 16. Juni 2002

Eröffnung: Freitag, den 17. Mai um 19 Uhr

RealismusStudio der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst (NGBK)
Oranienstr. 25, 10999 Berlin, +49 30 / 6153031

Ansprechpartnerinnen:

Christin Lahr, lahr@nonresident.de
Ute Ziegler, uz@zweieinsdrei.de


Das Einzige, was heute sicher ist, ist, dass nichts sicher ist.

Vernetzte Gesellschaften befinden sich heute in einer paradoxen Situation zwischen Kommunikation und Überwachung. Wer nicht an vernetzte IT-Systeme angeschlossen ist, ist ausgeschlossen, doch wer vernetzt ist, ist verletzbar. Die Verletzbarkeit und der Missbrauch von Informationstechnologien wird derzeit nur in sehr spezialisierten Kontexten thematisiert. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung scheint sich schleichend und unbemerkt aufzulösen. Nicht nur Strafverfolgung und Nachrichtendienste verfügen über umfangreiche Kompetenzen den gläsernen Staatsbürger zu realisieren, sondern auch die wirtschaftliche Entwicklung mit ihren Strategien der Kundenbindung und deren scheinbarer Befriedigung von Konsumentenwünschen arbeitet am gläsernen Kunden. Datenbanken jeglicher Art können miteinander vernetzt werden, personenbezogene Informationen können zusammengeführt und zu lukrativen Personenprofilen generiert werden. Dies geschieht selbstverständlich unter der Prämisse der Zweckentfremdung von Informationen und der Aufhebung von Anonymität.

Die Ausstellung ANGEWANDTE (UN)SICHERHEIT zeigt künstlerische Strategien und Interventionen, die sich mit diesen Themenkomplexen kritisch subversiv auseinandersetzen.



Im Mittelpunkt des Projektes
"Privacy-Card - Privatsphäre ohne Wertverlust" der Bielefelder Künstler Rena Tangens + padeluun stehen die Möglichkeiten des Datensammelns, des Auswertens und der entstehenden Personenprofile. Ihr Projekt zeigt, dass die damit zusammenhängenden Gefahren nicht nur diejenigen betreffen, die das Internet nutzen, denn auch durch Einkäufe mit Kunden- und Kreditkarten werden die Databodies gefüttert. Durch die Teilnahme an Preisausschreiben geben Kunden ihre Adressen preis, durch die Benutzung von Paybackkarten tauschen sie Rabattpunkte, gegen Informationen über sich. Diese auf unterschiedlichsten Wegen gewonnenen Daten lassen sich zu wertvollen Personenprofilen verknüpfen. Im Ausstellungsraum wird das Projekt Privacy-Card als eine Art Messepräsentation gezeigt. Die Privacy-Card ist dort für 2,50 Euro käuflich zu erwerben.

Mit dem "Big Brother Award" - der jährlich an Politiker, Firmen und Institutionen vergeben wird - initiierten sie ein weiteres Projekt, mit dem besonders schwerwiegende Verletzungen des Datenschutzes an die Öffentlichkeit gebracht werden. Einer der Preisträger des letzten Jahres war beispielsweise Otto Schily, der schon vor dem 11. September eine Gesetzgebung forciert hat, die unter dem Deckmantel der vorgeblichen Sicherheit den Einsatz von immer leistungsfähigeren Überwachungstechnologien, der Möglichkeit elektronischer Aufzeichnung und dem Einsatz biometrischer Verfahren Vorschub geleistet hat.


Das Künstlerduo
Alvar Freude und Dragan Espenschied geht in seiner im Jahr 2001 mit dem Internationalen Medienpreis ausgezeichneten Arbeit "insert_coin" unter anderem der Frage nach, ob es trotz der zunehmenden Unkontrollierbarkeit und Unüberschaubarkeit von Informations- und Datenströmen und einer damit einhergehenden Informationsverweigerung - dennoch Möglichkeiten gibt, die Selbstverantwortung des Einzelnen zu sensibilisieren und damit zu aktivieren?

Mit einfachen Mitteln gelang es den beiden Absolventen der Merz-Akademie in Stuttgart den Hochschulserver dergestalt zu manipulieren, dass Netzadressen automatisch vertauscht oder die über Suchmaschinen abgerufenen Seiten verfälscht bzw. inhaltlich manipuliert wurden. Selbst die offensichtlichsten Veränderungen der Inhalte von Internetseiten wurden von den Kommilitonen nicht bemerkt bzw. nicht beanstandet. Erst ein Totalausfall des Servers überführte die Künstler der Manipulation. Diese ausbleibenden Reaktionen zeigen zum einen, wie kritiklos der Nutzer im Allgemeinen ist und zum anderen, wie schutzlos der Unwissende den undurchsichtigen technologischen Standards der Computerbranche ausgeliefert ist. Im Ausstellungsraum wird eine Computerinstallation mit zwei manipulierten Rechnern gezeigt, die mit einem am ZKM in Karlsruhe stehenden Proxyserver verbunden sind.

Das Eindringen in die Privatsphäre wird aufgrund der digitalen Struktur oftmals gar nicht erkannt. Die Folgen der immer komplexer werdenden Datenströme werden immer undurchsichtiger, und damit unverständlicher für die meisten Benutzer des Internets und des Word Wide Web. Der Staat nutzt diese Unwissenheit ebenso wie Softwarefirmen und private Internetprovider, die Informationen eigenmächtig sammeln und filtern, denn Zensur, Manipulation und unzulässige Datenerhebungen vollziehen sich heute weitgehend unbeobachtet im Cyberspace.


Beate Geissler und Oliver Sann setzen sich in ihrer Arbeit "shooter" mit dem Umgang und den Auswirkungen von online-Kriegsspielen auseinander, die auf LAN-Partys (LAN = Local Area Network) üblicherweise mit Hunderten von Spielern gespielt werden. Sie haben seit Anfang 2000 selbst sogenannte "LAN-events" für 3D Ego Shooter Software veranstaltet. Rechnernetzwerke wurden, ähnlich einer Versuchsanordnung, aufgebaut und Teilnehmer während des Spiels mit Spielsoftware, vorwiegend Quake III Arena, in einem ganz bestimmten Augenblick fotografiert, nämlich in jenem, in dem die abgebildete Person im Spiel einen ihrer Kontrahenten tötet. Aus unterschiedlichen Berufssparten und sozialen Hintergründen wurden Spieler für diese eigens inszenierten LAN-Partys gewonnen. Beate Geissler und Oliver Sann inszenieren eine ausgeleuchtete Spielsituation im Atelier. Im Moment der virtuellen Tötungssituation entsteht mit einer Großformatkamera eine analoge Porträtfotografie des jeweiligen Spielers.

Die im Ausstellungsraum gezeigten Fotografien präsentieren sich auf den ersten Blick wie klassische Porträts, und zeigen einen Ausschnitt dieser fotografischen Arbeit. Die Titel der Bilder setzen sich zusammen aus den Namen, die sich die Spieler selbst gegeben haben, und der Pulsfrequenz des Einzelnen im Augenblick der Aufnahme. Die Arbeit thematisiert zwar das Thema der Netze, zeigt aber nicht Netzkunst im herkömmlichen Sinn, sondern bezieht auch die fliessenden Grenzen zwischen real und virtuell mit ein.

In unserer Gesellschaft ist zunehmend die Tendenz zu beobachten, dass die beständig wachsende Komplexität von Daten zu einer Verweigerung führt, Informationen aufzunehmen und zu verarbeiten. Diese Abwehr wird durch die fortschreitende Technisierung von Prozessen noch verschärft. Die Informationsgesellschaft als Umschlagplatz von Informationen ohne Verarbeitungsprozess führt zu einer Art "Informationsverweigerungsgesellschaft". Die Abwehr resultiert u.a aus einer Mischung von mangelndem Problembewusstsein und Verunsicherung im Umgang mit neuen Technologien.



Selbst in einer Gesellschaft, in der das Thema Sicherheit ein boomender Wirtschaftsfaktor ist, ist niemand in der Lage Sicherheit für den realen Raum zu gewährleisten. Hier geht es allenfalls um die Vermittlung eines Sicherheitsgefühls. Für den virtuellen Raum ist die Problematik in weiten Kreisen noch nicht einmal erkannt worden.

ANGEWANDTE (UN)SICHERHEIT thematisiert, entwickelt und vermittelt künstlerische Strategien im Umgang mit aufgeklärter Unsicherheit, die sich fernab von jeglicher Opferhaltung selbstverantwortlich aktivieren lassen.


Konzeption und Organisation:

Christin Lahr, lahr@nonresident.de
Ute Ziegler, uz@zweieinsdrei.de

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